6. Das Getriebe

"Erkennst du deinen Gegner und erkennst du dich selbst, so werden von hundert Kämpfen, die du auszufechten hast, hundert siegreich sein."
"Erkennst du den Gegner nicht, doch erkennst du dich selbst, so stehen die Chancen zu gewinnen oder zu verlieren gleich."
"Erkennst du weder deinen Gegner noch dich selbst, so wirst du deine Kämpfe nur in Niederlagen zählen."

Sun Tzu

Der Zahn der Zeit

Da das Zerlegen des Motors relativ flott von statten ging, hielt ich es für eine gute Idee, auch einen zeitnahen Blick auf oder besser in das Getriebe zu werfen und es praktisch in einem Aufwasch gemeinsam mit dem Motor zu überholen.

Obwohl das Getriebe äußerlich einen guten Eindruck machte, wollte Heinz zunächst die Lager und Wellen im Inneren des Gehäuses eingehender begutachten, bevor er ein endgültiges Urteil in Bezug auf die Brauchbarkeit des Getriebes abgab. Schon beim abnehmen des Kickerdeckels, zeigten sich erste Spuren leichten Rostes. Und auch unter dem oberen Getriebedeckel zeigte sich die eine oder andere rostige Stelle. Vermutlich hatte das Getriebe eine Zeit ohne ausreichende Ölung trocken gestanden und in dieser Zeit Feuchtigkeit gezogen. Vom Grad des Rostes her, allerdings nichts Großes, das nicht in den Griff zu bekommen wäre. Bei meinem nächsten Besuch in der Werkstatt, war das Getriebe bereits komplett in seine Bestandteile zerlegt und auf dem Weg zu einer gründlichen Überholung.

Die Frage erwähnenswerter Besonderheiten, wurde mir lediglich mit einem stummen Schulterzucken beantwortet. Da das im Inneren vorhandene Restöl seine beste Zeit bereits weit überschritten hatte, hätte es gestunken wie Katzenpisse. Darüber hinaus gab es nichts Außergewöhnliches zu berichten.      

In einem unbeobachteten Augenblick hob ich eines der Getriebeteile dicht an meine Nase und stellte fest, dass sich selbst der Geruch von Katzenpisse inzwischen verflüchtigt hatte und es bis auf den Geruch von bearbeitetem Metall nichts anderes mehr zu riechen gab.

Während ich meine Kamera in Position brachte, machte ich mir Gedanken über eine meiner Neigungen, alles mit einer besonderen Note zu versehen und es darüber etwas aufwerten zu wollen.

Bisher hatten mir die beiden, von mir gewählten Schrauber mit ihrer nüchternen Sachlichkeit diesen Zahn bereits im Ansatz gezogen. Während ich die Idee hatte die Gehäuse des Motors und des Getriebes strahlen zu lassen und danach alles mit schönen Schrauben zu versehen, vertrat Heinz die Meinung besser mit dem zu arbeiten was man hatte.

Der Motor besaß sein Alter und hätte seiner Ansicht nach bereits aus diesem Grunde eine Geschichte zu erzählen. Warum also sollte man ihn wie das neuwertige Produkt eines gelungenen Nachbaus auftreten lassen, wenn er nach gründlicher Reinigung die Gedanken des Betrachters mit auf eine reale Reise in die Vergangenheit nehmen könnte.

Ein Gedanke der mir grundsätzlich gefiel, erinnerte er mich doch an eine Erfahrung die ich vor einigen Jahren machte.

Alles eine Frage des Respekts
Sommer ´93, vom Yellostone kommend, fuhr ich die Ebene Richtung Cody hinunter. Meine beiden Begleiter, mit denen ich schon seit Wochen unterwegs war, wollte ich für einen Tag hinter mich lassen und so hatte ich mir unseren Van geschnappt um die endlose Weite des Landes auf mich wirken zu lassen. Ein Tag würde zwar nicht ausreichen um die Black Hills zu erreichen, doch bis Cody sollte es reichen.

Vorbei an endlosen Kornfeldern und alten Ranches zog sich die Straße wie mit einem Lineal gezogen bis zum Horizont. Auf einem Hügel stehend, wies mich eine große Plakatwand darauf hin, dass Gott mich sehen würde und die zahlreichen Einschusslöcher in den Verkehrsschildern und den Autowracks am Straßenrand signalisieren mir, das Gott scheinbar nicht der einzige war dessen Blick hier auf etwas zielte.

Bisher hatten wir die meiste Zeit in Arizona, Nevada und Kalifornien vertrieben. Nun hoffte ich in Cody etwas vom Geist des ursprünglichen Westens Amerikas zu finden und wo wäre diesem Geist besser nachzuspüren als in einem Museum, das man dem legendären Buffalo Bill gewidmete hatte.

Ich erreichte den Ort um die Mittagszeit. Die Sonne brannte unbarmherzig vom wolkenlos blauen Himmel und kaum jemand hielt sich bei diesen Temperaturen im Freien auf. Die Atmosphäre erinnerte an Szenen amerikanischer Roadmovies, in denen die gesamte Trostlosigkeit eines Lebens außerhalb der Millionenmetropolen mit einem einzigen Blick auf eine menschenleere Kreuzung beschworen wurde.
 
Ich ließ den Van am Straßenrand ausrollen und beobachtete die Ampel die hinter der zentralen Kreuzung des Ortes den nicht vorhandenen Verkehr regelte. Ohne dass es jemanden gab der darauf achtete wechselte sie mit System gesteuerter Genauigkeit von der Phase des Haltens zu der des Fahrens.

Das einzige Lebewesen das ich an der Kreuzung ausmachen konnte, war eine bunt gefleckte Promenadenmischung, die sie dem roten Signal zum Trotz mit schleppendem Gang und heraushängender Zunge in der Diagonale querte.

Ein Schild an der Kreuzung forderte dazu auf, dem Straßenverlauf zu folgen um zum Museum zu gelangen. Die auf dem Parkplatz abgestellten Fahrzeuge wiesen darauf hin, dass neben mir noch einige andere an diesem heißen Tag den Weg an diesen Ort auf sich genommen hatten.

Mit einem Seitenblick auf das an meinem Gürtel befestigte Messer, händigte mir die Kassiererin die Museumsordnung aus. "Waffen könnten an der Garderobe abgegeben werden", ich war peinlich berührt, das schwere Allzweckmesser das mir beim Camping gute Dienste geleistet hatte, war mir schon so vertraut, das ich es völlig vergessen hatte.

Wer in unseren Breiten mit einem solchen Messer am Gürtel ein Museum aufsuchte, wäre wohl unweigerlich ein Fall für die Hüter öffentlicher Ordnung, wenn nicht schlimmeres. Ich signalisierte, dass ich es ins Auto bringen würde, doch die Kassiererin blieb weiter freundlich. "Das sei nicht nötig, es an der Garderobe abzugeben, sei kein Problem!" Also löste ich es von meinem Gürtel und reichte es ihr über den Tresen. Der Blick in die Schublade in die es verschwand, lies mich an meinem Verstand zweifeln. Wenn ich mir bereits Gedanken über ein Messer machte, welche Gedanken beschäftigen dann die Besitzer diverser großkalibriger Colts und Revolver die bereits in der Schublade lagen.

Wer zu Buffalo Bill ging, der brachte offensichtlich seine Waffen mit, um sie dann an der Garderobe mit der Normalität einer Jacke oder eines Schirms zur Aufbewahrung zu geben.

Und selbst in der Museumsordnung stand es unter Punkt 1. ganz oben. Das tragen von Waffen im Museum ist nicht gestattet. Gegen das Mitbringen derselben war jedoch nichts einzuwenden. Es blieb mir nichts weiter als mich zu wundern.

In einer Nebenausstellung des Museums befindet sich eine stattliche Anzahl von Winchester Gewehren. Darunter auch das aus dem Film "Winchester ´73". Das berühmte eine Gewehr von tausend, dem bei der Herstellung die besondere Aufmerksamkeit des Herstellers galt und das in dieser Eigenschaft des Besonderen die Hauptrolle in dem ihm gewidmeten Film spielte. Ich vermag es nicht zu beziffern wie oft ich diesen Film gesehen habe. Er beinhaltet alles was sich ein Junge wünschte Cowboys, Indianer, Soldaten, die Zwist zweier Männer die schießen konnten wie sonst niemand auf der Welt und eben diese magische Winchester, die nun in greifbarer Nähe vor mir in ihrer Vitrine hing.

Ich betrachte mich bereits seit vielen Jahren als eine Art Respektsbewahrer alter Dinge. Viele Stunden meiner Jugend verbrachte ich neben meinem Großvater in seinem Werkzeugkeller und half ihm bei der Wartung seines Motorrades. Das alte Werkzeug das uns dort umgab, übte schon in frühen Jahren einen besonderen Reitz auf mich aus und daran hatte sich bis heute nichts geändert.

Produkte die aus Computer gesteuerten Maschinerien entstanden, ohne das ein Mensch Hand daran gelegt hätte, kannte man damals noch nicht. Mit den alten Werkzeugen war ein Mann der sich in ihrer Handhabung verstand, in der Lage Dinge entstehen zu lassen. Kaputtes konnte mit ihrer Hilfe in einen funktionsfähigen Zustand zurückversetzt werden. Bevor etwas ersetzt wurde, versuchte man es zu reparieren. So bekamen seelenlose Maschinen den Geist eingehaucht, nach dem sich heute so viele sehnen. Man wusste was und wie man etwas repariert hatte. Kannte jedes Geräusch das eine Maschine von sich gab und reagierte sensibel auf jede Veränderung des Klangs.
Kein Nagel konnte so verbogen sein, das man ihn nicht wieder gerade klopfen konnte. Kein Gewinde so vermurkst, das man es nicht wieder in Form schneiden konnte.

In diesen Jahren wurde mir die Wertschätzung gegenüber den Dingen die uns durch das Leben begleiten vermittelt, ohne sie jedoch wirklich zu verstehen. Es braucht mitunter ein besonderes Schlüsselerlebnis, um sich ein bereits vorhandenes Verständnis ins Bewusstsein zu rufen.

Die Erkenntnis dieses besonderen Respektsempfindens traf mich vor einer der Vitrinen des Museums. Mein Blick wanderte Ziellos über die dort ausgestellten Dinge des persönlichen Besitzes des Büffeljägers. Der Skalp Yello Hands, den Buffalo Bill im Zweikampf bezwungen und eigenhändig skalpiert haben soll. Kleidungsstücke, Waffen und Plakate seiner Show, mit deren Hilfe er den Geist des Wilden Westens bis nach Europa trug.

Dann blieben meine Augen an seinem Rasierzeug hängen und der Wert des Alten wurde mir mit einem Schlag bewusst.

Nur ein runder Spiegel, ein Rasierpinsel, ein Messer und der dazugehörige lederne Schärfriemen. Nicht besonders sollte man meinen und doch trugen sie die Geschichte ihres Besitzers in sich. Buffalo Bill war längst gegangen, doch sein Rasierzeug war geblieben und trug den Abdruck der Erinnerung an diesen Mann in sich.

Der vernickelte Rahmen, der das Glas des Spiegels einfasste. Das Holz und die Haare des Pinsels. Das Horn und das Eisen des Messers. Das Leder des Riemens. Das alles waren organische Stoffe, die sich über die Jahre durch die Berührung ihres Besitzers, sein "Begreifen" zu dem veränderten, was sie heute waren.

Zu dem Zeitpunkt an dem er sie in einem Geschäft erstand, mit der Seele der herstellenden Handwerker verbunden, trugen sie nun seinen Geist in sich und werden gleichzeitig auch Einfluss auf sein Leben genommen haben.

In einem Zeitalter in denen sich Menschen das Geräusch eines Furzes als Klingelton auf ihr Handy laden, wären die wenigsten in der Lage die Handhabung dieses Rasierzeuges unbeschadet zu überstehen. Für die einem ist es nur Rasierzeug aus einer längst vergangenen Zeit. Für mich war mit der Betrachtung dieses Rasierzeuges die erste bewusste Wahrnehmung eines ganz besonderen Respekts verbunden.

Natürlich mache auch ich mir die große Palette der heutigen Weckwerfgesellschaft zu nutze. Kaufe etwas, benutze es und werfe es achtlos auf den Müll. Doch daneben wächst die Zahl der Gegenstände in meinem Leben, die an Wert gewinnen, die ich ihrem Wert entsprechend bewahre und seit meinem Tag in Cody ganz bewusst mit Respekt zu schätzen weiß.

Backpulver
"Das Strahlen mit Glasperlen oder gar Sand würde Material und damit auch den Zahn der Zeit abtragen und der feine Staub würde sich in alle Poren und ritzen setzen!" Mit seinen Ausführungen zur Oberflächenreinigung holt mich Heinz aus der Welt meiner Gedanken zurück in die Gegenwart seiner Werkstatt.

Um schwer zugängliche, verwinkelte Bereiche gründlich zu reinigen oder der total verdreckten und rostigen Oberfläche der Zylinder zu neuem Glanz zu verhelfen, könnte man das Strahlen mit Glasperlen vielleicht in Erwägung ziehen. Für das Reinigen der Gehäuse des Motors und des Getriebes zog Heinz diese Möglichkeit jedoch nicht in Betracht. Wenn es nach ihm ging, dann würden sie zwar im Inneren komplett überholt und erneuert, die äußere Haut jedoch sollte ihre Geschichte behalten. Und um den Schmutz auf ihrer Oberfläche bei zu kommen, hieß seine Waffe "Backpulver"!

Da der Vorschlag des radikalen Glasperlenstrahlens ursprünglich von mir kam, machte ich bei der gebotenen alternative "Backpulver" ein entsprechend dummes Gesicht. Was sollte Backpulver mit der Reinigung eines Oil, Fett und Dreck verschmierten Gehäuses zu tun haben. Zu meinem erstaunen klärte Heinz mich darüber auf, das wenn man das Backpulver zu einer leicht sämigen Flüssigkeit anrührte und mit einer Bürste auf die zu reinigenden Flächen auftrug, dann würde es etwa so wie eine Kukident Sprudeltablette auf die dritten Zähne wirken.

Der genaue Vorgang blieb mir zwar unklar, doch in der Tat löste die Backpulverpampe einen Großteil der Verschmutzungen und erhielt gleichzeitig das Flair des Alten. Hätte man die Gehäuse gestrahlt, würde sich kaum noch ein Hinweis auf sein tatsächliches Alter finden lassen. Doch da sich meine beiden Schrauber auf das restaurieren alter Motoren spezialisiert hatten, legten sie Wert darauf, dass deren Alter auch nach getaner Arbeit optisch erhalten blieb. Nach kurzer Überlegung musste ich ihm zustimmen. Mir schwebe ein Chopper im alten Stil vor. Was konnte diesen Stil mehr unterstützen, als ein Motor und ein Getriebe die im Inneren gründlich überholt worden waren und denen man einen Teil ihrer Geschichte trotzdem ansah.

Da es sich weder bei dem Motor noch dem Getriebe um Schrottteile handelte, gab es wie zu erwarten kaum ungewöhnliche Ereignisse bei deren Instandsetzung. Heinz weidete das Getriebegehäuse mit geübten Handgriffen aus und reinigte es mit besagter Backpulverlösung. Die Innereien sichtete er nach brauchbarem und orderte die Teile neu, die als Ergebnis der Sichtung auf den Müll wanderten. Da es bei dem Getriebe bis auf die Lager und einiger Kleinteile kaum etwas gab, das ausgetauscht werden musste, hielt sich das Ganze in einem finanziell überschaubaren Rahmen. Zwar sollte es einige Wochen dauern bis die benötigten Teile geliefert wurden und das ganze zu einem funktionstüchtigen 4 Ganggetriebe zusammengesteckt war, doch das Ergebnis stellte mich voll und ganz zufrieden. Als es nach gelungener Überholung wieder komplett auf der Werkbank stand, vermittelte es mir das Gefühl das nun der tatsächliche  Aufbau meines Projektes begonnen hatte.

Alles was nun noch an dem Getriebe verändert werden würde, sollte der Optik und damit dem Stil meines Old School Choppers dienen. So sollte das vorhandene Kickerpedal seinen Platz zugunsten eines auf alt getrimmten Messingpedal räumen und die Schaltseite sollte auf eine Suizid Schaltung umgerüstet werden, von der ich den beiden allerdings noch nichts erzählt hatte, weil sich laut einstimmig vorgetragener Aussage der Beiden mit jeder meiner bisher vorgebrachten Vorstellungen die Möglichkeit vergrößerte, das sie sich einer Probefahrt mit dem Endergebnis meiner Ideen verweigern würden.

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