Die Außenperspektive: Städtesysteme
Rang-Größe-Verteilungen ("Rank Size Rule")
Ältere Fragestellung: Warum gibt es große und kleine Städte? Gibt es Regelhaftigkeiten der Größenverteilung?
Empirische Regelhaftigkeit: sog. Rang-Größe-Regel (Rank Size Rule).
Er = E1 . r-1 oder in verallgemeinerter Form: Er . rn = M
Zuerst entdeckt durch F. Auerbach 1913, dann auch G. K. Zipf 1941;
neuere Literatur zum Thema: Berry 1961 und Karsch 1977.
Geeignet zur Charakterisierung der Größenverteilung und ihrer Entwicklung in einem Städtesystem, z.B. auch der empirischen Abweichungen von der Rang-Größe-Regel.
Weitergehende Hypothese (Berry 1961, El-Shaks 1972): Es gibt einen systematischen Zusammenhang zwischen dem Entwicklungsstand eines Landes und dem Polarisierungsgrad seines Städtesystems: niedriger Entwicklungsstand: dezentrale Struktur, mittlerer Entwicklungsstand: polarisierte Struktur, hoher Entwicklungsstand: dezentrale Struktur.
Kritik: - Außenabgrenzung der Städte verschwimmt durch Suburbanisierung;
- Außenabgrenzung der (meist nationalen) Städtesysteme verliert an Bedeutung
(keine geschlossenen regionalen bzw. nationalen Systeme);
- Rang-Größen-Analysen klammern die räumliche Dimension (Lageaspekte)
weitgehend aus;
- Geeignet zur Beschreibung; Erklärung der Rang-Größe-Regel bis heute nicht
schlüssig gelungen; im übrigen kaum zu weitergehenden Erklärungen
geeignet (z.B. nur sehr lockerer Zusammenhang zwischen Polarisierungs-
grad und Entwicklungsstand eines Landes).
Die Organisation von Städtesystemen: Sektorale und hierarchische Funktionsspezialisierung als komplementäre Ordnungsprinzipien
Beispiel 1: Die Entwicklung des deutschen Städtesystems 1939-1970- 1995
Beispiel 2: Das europäische Städtesystem (räumliche Integration nationaler Städtesysteme)
Beispiel 3: Das globale Städtesystem und das Konzept der "Global City"
Der Terminus "Global City" wird heute in der Fachliteratur meist in einem speziellen Sinne als weltwirtschaftliche Steuerungs- und Kontroll-Metropole, also im Sinne einer "funktionalen Weltstadt" verwendet. Der moderne "Global-City"-Ansatz wurde im wesentlichen in den achtziger Jahren in den USA entwickelt (u.a. John Friedmann). Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Diskussion waren eine zunehmende Unzufriedenheit mit den traditionellen sozialökologischen Erklärungsansätzen. Statt dessen rückten die weltwirtschaftlichen Verflechtungen und Arbeitsteilungen und deren wechselseitige Zusammenhänge mit der inneren Stadtstruktur in den Mittelpunkt des Interesses. Diese neue Perspektive, die vor allem auf die ökonomischen Beziehungen abstellt, nennt Friedmann (1986) die "Weltstadt-Hypothese" mit 7 Einzel-Hypothesen:
(1) Die Form und das Ausmaß der Integration einer Stadt in die Weltwirtschaft und die
Funktionen einer Stadt in der neuen räumlichen Arbeitsteilung werden entscheidend
für sämtliche innerstädtischen Strukturveränderungen sein.
sprüche des Industriekapitalismus, u.a. die Polarisierung von Raum und Klassen.
Die in der zweiten These angesprochene Hierarchie von Weltstädten definiert Friedmann anhand der folgenden Kriterien: Hauptverwaltungen von transnationalen Unternehmen, internationale politische Organisationen, Umfang und Dynamik des unternehmensorientierten Dienstleistungssektors, Industriezentrum, Verkehrsknoten, Bevölkerungsgröße. Als "primäre Weltstädte" identifiziert Friedmann London, Paris, Rotterdam, Frankfurt, Zürich, New York, Chicago, Los Angeles und Tokyo sowie ferner als einzige in der Semiperipherie Sao Paulo und Singapur.
Zu den wenigen substanziellen deutschsprachigen Untersuchungen zur Frage einer globalen Städtehierarchie gehört die vor allem empirisch sehr gehaltvolle Studie von Dieter Rebitzer über die "Internationalen Steuerungszentralen" (1995). Rebitzer wählt eine "systemtheoretische Perspektive" mit einer Zerlegung des globalen Städtesystems in die funktionalen Subsysteme (1) Weltproduktion, (2) Weltfinanzwesen, (3) Welthandel und -verkehr sowie (4) Weltpolitik. Im empirischen Teil werden dann die drei Triadenregionen Nordamerika, Europa und Japan/Ostasien mit umfangreichem empirischen Material behandelt.
In den letzten Jahren hat sich vor allem Saskia Sassen um eine weitere Konkretisierung
des Ansatzes bemüht. Aufgrund ihrer weltweit viel beachteten Arbeiten hat sich inzwischen
der Terminus "Global City" weitgehend durchgesetzt. Sassen zielt weniger auf die
globale Hierarchie des Städtesystems als vielmehr auf die innerstädtischen
Restrukturierungsprozesse, die mit der Weltstadt-Funktion wechselseitig (!) kausal
verknüpft sind. Ihr wichtigstes Untersuchungsfeld ist New York, aber auch London und
Tokyo. Kernthesen: Geht aus von drei wesentlichen Prozessen der Reorganisation der
ökonomischen Basis, speziell seit den 80er Jahren beobachtet:
1) Wachstum der höherwertigen Dienstleistungen, insb. bedingt durch Wachstum des global
orientierten Finanzsektors, ausgeprägt in modernen Büro-Hochhäusern,
2) De-Industrialisierung, neue Krise der suburbanen Wohngebiete der unteren Mittel-
schichten,
3) Wachstum der informellen Ökonomie, parallel: Dritte-Welt-Stadt in New York; dies nicht
nur Ergebnis individueller Überlebensstrategien, sondern Ausdruck struktureller
Reorganisation der Gesellschaft.
Als Folge wachsender weltwirtschaftlicher Verflechtungen und der politischen Deregulierungen speziell seit den 80er Jahren überproportionales Wachstum der globalen Finanzmärkte. Diese sind komplex, wettbewerbsorientiert, innovativ und riskant; sie erfordern eine umfangreiche Infrastruktur von hochspezialisierten Diensten und eine Kommunikation mit Face-to-face-Kontakten. Diese Dienste sind typischerweise nicht über das Städtesystem verstreut, sondern konzentriert, z.B. in London mit 31% der nationalen Producer-Dienstleistungs-Beschäftigten. London, New York und Tokyo sind die drei globalen Zentren.
Die tiefgreifenden Veränderungen der ökonomischen Basis der Weltstädte führen zu innerstädtischen Restrukturierungen. Das Wachstum des Finanz-/Dienstleistungs-Komplexes übersteigt die Aufnahmekapazität des traditionellen CBDs (Central Business Districts) und läßt sekundäre Zentren in der metropolitanen Region entstehen. Die Entindustrialisierung und die zunehmende Qualifikations- und Lohn-Spreizung auf den Teil-Arbeitsmärkten des Dienstleistungssektors führen zu einer tiefgreifenden sozialen Segmentierung. Die Gewinner dieses Prozesses sind die höherqualifizierten Dienstleistungsbeschäftigten ("urban professionals"), die Verlierer hingegen die traditionell im schrumpfenden Produktionskern beschäftigten unteren Mittelschichten sowie generell die Erwerbstätigen mit geringen beruflichen Qualifikationen, darunter vor allem Angehörige ethnischer Minderheiten und Immigranten. Ein weiterer Aspekt der polarisierenden Restrukturierung der Weltstädte ist das Wachstum der informellen Ökonomie und die damit einhergehende Entwicklung einer Dritte-Welt-Stadt in New York.
Die Thesen von Saskia Sassen sind nicht ohne Widerspruch geblieben. Chris Hamnett (1994) hat beispielsweise darauf hingewiesen, daß es unzulässig ist, die für New York geltenden Befunde ohne weiteres zu verallgemeinern. Die Entwicklung einer Stadt zur Global City sei keineswegs zwingend mit einer sozialen Polarisierung verbunden. Beispielsweise habe in der Randstad Holland anstelle einer Polarisierung eine generelle Professionalisierung der Beschäftigungsstruktur (gemessen an Bildung und Berufsgruppen) stattgefunden. An der Polarisierungsthese von Sassen kritisiert Hamnett, daß sie zu pauschal formuliert wurde und daß die Befunde für New York (und möglicherweise auch für London) auf spezielle Randbedingungen (Zahl und Zusammensetzung der Immigranten, Politik, Sozialsystem, Arbeitsmarkt usw.) zurückzuführen sind.
Allgemeine Bedeutung des Global City-Ansatzes:
Das Wachstum des global orientierten Finanz-/Dienstleistungskomplexes geht in der Regel - aber nicht notwendig (!) - einher mit einer ökonomischen, sozialen und räumlichen Polarisierung der städtischen Ökonomie und Gesellschaft. Um ein Auseinanderdriften von Bevölkerungsgruppen und Stadtteilen bzw. Städten zu verhindern, ist an Stelle einer undifferenzierten Liberalisierung eine ökonomisch, sozial und räumlich ausgleichende Politik erforderlich.
Theoretische Interpretationen von Städtesystemen: Die neoklassisch- systemtheoretische Sicht und die regulationstheoretische Sicht
Regulationstheoretische Interpretation der Entwicklungsprozesse in Städtesystemen:
Zweidimensionale Hierarchie von Städtesystemen
Kontrollkapazität |
Konzentration innovativer Produktionsstrukturen | Konzentration traditioneller Produktionsstrukturen | Defizit an Industriekapazitäten |
Produktionsstruktur | |||
Konzentration von internationalen Kontroll- und Finanzkapazitäten | Typ 1 "Global cities" |
||
Konzentration von europaweiten Kontroll- und Finanzkapazitäten | Typ 2a Europäische metropolitane Stadtregionen |
Typ 2b Europäische metropolitane Stadtregionen |
|
Konzentration von national bedeutsamen Kontroll- und Finanzkapazitäten | Typ3a National bedeutsame Städte |
Typ3b National bedeutsame Städte |
Metropolen der "Dritten Welt" |
Ohne Konzentration von bedeutenden Kontroll- und Finanzkapazitäten | Typ 4 Städte mit innovativen Produktionsstrukturen |
Typ 5 Städte mit fordistischen Produktionsstrukturen |
Typ 6 Marginalisierte Städte |
Nach Krätke 1992, S. 40 (verändert) |
Wichtigste Veränderungen
- erstens der "Aufstieg" von Stadtregionen mit innovativen Produktionsstrukturen (günstige regionale Verflechtungsstrukturen, hoher F&E-Besatz) von national bedeutsamen zu europaweit bedeutsamen Kontroll- und Steuerungszentren (Beispiel: München);
- zweitens der "Abstieg" von Stadtregionen mit fordistischen Produktionsstrukturen (großbetriebliche Massenproduktion) aufgrund des Verlustes ihrer ehemals national bedeutsamen Kontroll- und Steuerungsfunktion (Beispiel: Liverpool);
- drittens die "Marginalisierung" von Städten mit fordistischen Produktionsstrukturen aufgrund des Wegbrechens ihrer industriellen Basis (Beispiel: Bitterfeld).