20170920 Am Strassenrand 3Während ich das Auto auf dem Parkstreifen vor dem Motel 6 Office ausrollen lasse, stelle ich fest, dass zeitgleich noch zwei weitere Fahrzeuge ankommen. Nun heißt es schnell sein, doch zum Glück befinden sich in beiden Fahrzeugen Frauen neben dem Fahrer. Das bedeutet, dass nicht ausgestiegen und zum Office gegangen wird, bevor nicht noch etwas im Auto gekramt wurde und das bringt mir zumindest auf dem Weg zum Office einen entscheidenden Vorteil.

Die Frau, die im Office auf mich wartet, lässt mich kurz Zögern. Normalerweise treffe im Motel 6 Office auf Seilschaften sozialer Minderheiten. In der Gegend um Oakland waren es Mexikaner, Richtung Montana waren es Asiaten, weiter Richtung Osten Inder und in der Gegend um New York Schwarze. Und alle zeigten innerhalb ihrer Seilschaften einen gewissen Witz, wirkten jedoch um Umgang mit dem Kunden ein wenig ausgebrannt und lustlos. Hier in New Mexico hätte ich wieder mit Mexikanern gerechnet, werde aber von einer einzelnen Weißen begrüßt, die noch dazu vor Lebensfreude zu sprühen scheint.

Ich denke mir, dass sie sicher noch nicht lange hier arbeiten wird und erfahre wie in einer direkten Gedankenübertragung, nicht nur das sie Karen heißt, sondern auch ihren ersten Tag in diesem Job hat. Dass sie sich damit quasi für alles entschuldigt was in der Folge passieren soll, ist mir zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar.

Mit dem Hinweis auf das reservierte Zimmer, halt ich ihr meinen Ausweis hin und wie üblich, versucht sie den Ausweis unter die Kamera ihres Tablets zu bekommen. Bis hierhin scheint alles normal. Aus Erfahrung weiß ich inzwischen, dass sich die Größe des deutschen Reisepasses nicht mit der Halterung des Tablets verträgt und es nun etwas dauern wird, bis Karen die richtige Position des Ausweises zur Kamera gefunden hat.

Ich nutze die Zeit sie genauer zu betrachten, um das Rätsel des Sonderbaren in ihrer Ausstrahlung zu lösen. Von der Größe und ihrer Statur her erinnert sie mich an Marcy Runkel, den Koksschlumpf aus der Serie Californication. Sie trägt so etwas wie ein weites Kittelkleid und fängt die Offenheit des Kleides mit einem giftgrünen Body wieder ein. Ihre Haut ist gebräunt, wobei die Bräune nicht natürlich wirkt und ihre Frisur ist etwas, das ich als Haare auf dem Kopf beschreiben würde.

Bei all den Gedanken, fließt die Zeit so dahin und das sich Karen nicht mehr bewegt, wird mir erst mit dem zunehmenden Scharren von Füßen in meinem Rücken klar. Offensichtlich hat sie bei dem Versuch den Ausweis unter die Kamera zu bekommen, das Programm des Tablets gekillt. Ob sie nun darauf wartet, dass das Programm wieder hochfährt, kann ich nicht sagen.

Hinter mir wird nun erstes Murren laut. Die Antwort darauf besteht aus dem Hinweis auf den ersten Tag und mich beschleicht das Gefühl zwischen die Fronten zu geraten. Als ihr klar wird, dass das mit dem Programm nichts mehr wird, greift sie zum Telefon und die Tonlage mit der sie in den Hörer flötet, verrät mir, dass sie das heute nicht zum ersten Mal tut.

Die Stimme am anderen Ende der Leitung scheint ihr zu sagen, was zu tun ist. Sie beginnt mit fahrigen Bewegungen auf die Oberfläche des Tablets zu klopfen und bittet gleichzeitig es langsamer angehen zu lassen und das eine oder andere noch einmal zu wiederholen. Was den Umgang mit dem Computer angeht, scheint sie etwas unterbelichtet zu sein und allein dafür könnte ich sie ins Herz schließen. Für das, was die hier Anwesenden wollen, bedeutet es jedoch gleichzeitig das endgültige Aus.

Ihre Fahrigkeit in der Bearbeitung der Oberfläche bestraft das System mir einem Komplettabsturz und das soll es dann auch erstmal gewesen sein. Inzwischen hat sich auch wieder eine Seilschaft gebildet. Reisende, die ein Zimmer wollen und über das Prinzip der Stillen Post erfahren, warum es nicht weitergeht. Als Karen klar wird, dass sie mit ihrem Hinweis auf den ersten Tag nichts mehr reißen kann, bricht sie das mit dem Telefon ab und bittet um persönliches Erscheinen.

Wir warten auf das Vice Managment und als der Mann endlich ins Bild tritt und sich damit entschuldigt, das Karen ihren ersten Tag hat, weiß ich das dass hier nichts mehr wird. Er lässt sich denn Ablauf der zum Zusammenbruch des Systems geführt hat noch einmal erklären, tut dann so als sei alles ganz einfach, bearbeitet die Tabletoberfläche und greift dann zum Telefon um den Manager anzurufen. Nun geht es wohl ums Passwort für das gesamte System und wo es zu finden sei. Ordner werden aus dem Regal gezogen, Ablagen durchwühlt und alles nur weil Karen ihren ersten Tag und meinen Ausweis nicht unter die Kamera bekommen hat.

Ich weiß nicht ob ich lachen oder weinen soll, bin aber froh, dass ich beim letzten Tanken noch mal zur Toilette gegangen bin. Irgendwann hat Karen dann wieder das Telefon in der Hand und der Manager auf der anderen Seite der Leitung das Passwort gefunden, das Karen in ihrer Verzweiflung beim Eintippen Buchstabe für Buchstabe und Zahl für Zahl für alle klar hörbar vor sich hin spricht. Noch während ich mich darüber wundere, wird es dem Vice nun wohl insgesamt zu viel. Er nimmt Karen den Hörer aus der Hand und schieb sie mit dem Hinweis auf den Sinn eines geheimen Passwortes unsanft zur Seite, die sich daraufhin entschließt ihren ersten Tag zu ihrem letzten zu machen.

Still sucht sie ihre Sachen zusammen, wirft einen Schlüsselbund im hohen Bogen auf den Tresen, entschuldigt sich noch einmal bei mir dafür, dass sie an meinem Ausweis gescheitert ist und weg. Wie gerne wäre ich in diesem Augenblick mitgegangen. Wir hätten uns gemütlich in ein Cafe setzen und etwas über das Leben plaudern und über die Ereignisse eines ersten Tages philosophieren können.

Die Geschichte geht natürlich noch lange weiter, doch ohne Karen, fehlt die zentrale Figur. Es erscheinen in Folge ein weiterer Vice Manager, die Frau von Manager und am Ende der Manager selbst und keiner von ihnen bringt das System wieder ans Laufen. Mir soll es egal sein. Ich habe Zeit und ein Inhalt meiner Reise ist das Sehen und in diesem Bereich wird mir hier einiges geboten.

Ich durfte mit ansehen, wie Karen am Ende ihres ersten Tages klar wird, dass dies hier nicht die geeignete Position im Leben ist, um ihre Zukunft zu gestalten und wie sie sich einfach so auf den Weg macht. Und als ich eine gute Stunde später auf meinem Bett liege, das ich bekommen habe, obwohl im Netzwerk nichts mehr funktioniert, stelle ich mir die Frage, warum wir alle so kampfhaft am künstlichen Systemen festhalten, obwohl uns alles klar sein muss, das es auf Dauer so nicht weitergehen kann und auch sicher nicht weiter gehen wird, hoffe das es Karen gut geht und sie ihre Entscheidung nicht bereut. 

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